Wiener WissenschaftlerInnen ist es erstmals gelungen, 3D-Modelle vom menschlichen Herzen in Zellkultur zu züchten. Das medizinische Potential der "Cardioide" ist groß.
Im Lauf der Embryonalentwicklung gehen aus ganz speziellen Zellen, den Stammzellen, alle verschiedenen Zelltypen und Gewebe eines Organismus hervor. Stammzellen sind seltene Alleskönner und werden auch im Erwachsenenalter benötigt, um abgestorbene Zellen des Körpers zu erneuern. Diese speziellen Zellen dienen dazu, Organe und Gewebe, die sich ständig erneuern, zu erhalten. Beispiele dafür sind etwa das Blut, die Haut oder der Darm. Im Knochenmark – dem Sitz der Blutstammzellen – werden pro Tag sogar mehrere Milliarden neue Blutzellen produziert.
Das Gebiet der Stammzellforschung ist heute hochaktuell, und es werden laufend neue Strategien entwickelt, um erkrankte, verletzte oder vorzeitig abgenützte Gewebe zu reparieren oder zu ersetzen. Die Stammzellforschung konnten bereits zahlreiche Erfolge erzielen.
Beim Tissue Engineering – dem Züchten von Gewebe in der Petrischale – kommen auch Stammzellen zum Einsatz: Diese werden so wie extrazelluläre Bestandteile (biologische und synthetische) verwendet, um im Labor „Gewebe“ zu entwickeln, die den PatientInnen wieder implantiert werden können. Tissue Engineering soll es auf lange Sicht einmal ermöglichen, komplexe Organe außerhalb des menschlichen Körpers zu züchten, so die Vision. Am besten ist aktuell die Herstellung von vitalem Hautersatz erforscht, der vor allem bei Personen mit großflächigen Verbrennungen benötigt wird. Darüber hinaus können bereits Knochen oder Knorpel gezüchtet werden, die in der Orthopädie bzw. der Zahn-, Kiefer und Knochenchirurgie zur Anwendung kommen.
Im Laufe der letzten Dekade hat eine weitere Entwicklung die biomedizinische Forschung revolutioniert: Das Züchten so genannte Organoide in Zellkultur. Darunter versteht man künstlich gezüchtete 3D-Mikrostrukturen aus Gewebe, die oft nur wenige Millimeter groß sind und in der Petrischale das korrespondierende Organ im Körper des Menschen simulieren. Organoide ermöglichen es, Krankheitsmechanismen von Organen zu untersuchen. Seit 2013 können beispielsweise „Minibrains“ – dreidimensionale Zellkulturen, die Eigenschaften eines menschlichen Gehirns haben – gezüchtet werden. Das Herz war allerdings bis vor kurzem das einzige innere Organ, welches als Organoid-Modell noch fehlte.
Deshalb ist es wirklich ein bahnbrechender Schritt, der WissenschaftlerInnen vom IMBA, dem Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, nun gelang: Gruppenleiter Sasha Mendjan und seinem Team gelang es, so genannte Herz-„Cardioide“ zu kultivieren, welche die Architektur des menschlichen Herzens rekapitulieren. Die ForscherInnen verwendeten in der Zellkultur Bedingungen, die auch im menschlichen Körper zu finden sind: Sie stellten Signale nach, die von der Mesoderm-Keimschicht ausgehen und die Entwicklung einer Herzkammer fördern, indem sie pluripotente Stammzellen anleiten. Das erstaunliche Resultat war eine Herzkammer-ähnliche Struktur aus mehreren Zellschichten, die sich selbst organisierte und die einen Herzschlag aufwies.
Laut WHO leiden jährlich 400 Millionen Menschen an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, welche weltweit auch die häufigste Todesursache darstellt. Rund 18 Millionen Menschen sterben jedes Jahr an kardiovaskulären Erkrankungen. Und bei Kindern sind Probleme mit dem Herzen der vorherrschende Geburtsdefekt. Bisher fehlte allerdings ein physiologisches Modell vom menschlichen Herzen, um regenerative Therapien zu entwickeln und Anomalien vom Herzen untersuchen und verstehen zu können.
Das Potential der Cardioide ist jedenfalls groß. Den WissenschaftlerInnen um Sasha Mendjan gelang es bereits, mehr über die molekularen Vorgänge und Mechanismen herauszufinden, die der Entstehung der Herz-Organoide zugrunde liegen. Cardioide als physiologisches und skalierbares System wecken nun große Hoffnung auf dem Gebiet der Medikamentenentwicklung und regenerative Medizin.
Originalpublikation:
as, 13.07.2020