30.08.2016
Kulinarische Erinnerungen – wie sie funktionieren und uns prägen
Essen hat neben seiner Funktion uns zu ernähren eine weitere besondere Fähigkeit: es kann Erinnerungen hervorrufen.
So alltäglich sich der Begriff Erinnerung für uns anhört, so umstritten ist er in der wissenschaftlichen Community. Einigkeit besteht darin, dass unter Erinnerungen, vergangene Erfahrungen verstanden werden, die, je nach Situation und Umgebung, immer wieder ein bisschen anders erzählt, erinnert und (wieder)erlebt werden. Der Prozess des Erinnerns kann aktiv passieren oder passiv durch etwas ausgelöst werden. Erinnerungen enthalten neben Bildern und Szenen auch ein großes Repertoire an Gerüchen, Empfindungen und Gefühlen. Durch seine sinnliche Komponente erzeugt Essen Erinnerungen, die eben nicht bloß kognitiver, sondern auch emotionaler und körperlicher Art sind.
Mit dem Essen ist somit ein reichhaltiges Repertoire verschiedenster Formen des Erinnerns verbunden. Das reicht vom sehr persönlichen Erlebnis, wie dem Verspeisen von Omas wunderbarer Geburtstagstorte in der Kindheit, bis zu gemeinsam erinnerten, kulturell geteilten Erfahrungen, wie dem spezifischen Hungeressen in der Nachkriegszeit. Somit können Erinnerungen soziale Beziehungen aber auch die Identitäten von ganzen Generationen mitprägen.
Der Zweck kulinarischer Erinnerungen
Aber wie hängen Essen und Erinnerung zusammen und wie beeinflussen sie unser tägliches Handeln?
Nostalgische Kindheitserinnerungen
Um diese Frage beantworten zu können, muss zuallererst untersucht werden, wie und zu welchem Zweck die Vergangenheit in Erinnerung gerufen wird. So werden etwa im persönlichen Bereich Erinnerungen an Speisen aus der Kindheit, bewusst oder unbewusst, abgerufen, um in der Gegenwart meist positive Gefühle wieder zu erleben. Die Erinnerung ist gerade in diesem Bereich sehr selektiv. So werden bestimmte Situationen geschönt oder romantisiert. Dies kann zu Nostalgie führen, wo den »guten alten Zeiten« nachgetrauert und negative Bereiche ausgeblendet werden.
Die Vergangenheit als Marketingstrategie
Aber auch das Ersehnen einer Vergangenheit, die selbst nie erfahren wurde, kann einen Einfluss auf unsere gegenwärtigen Handlungen haben. Gerade im Konsumbereich wird diese Form der Nostalgie geschickt als Marketingstrategie eingesetzt, indem Begriffe aus der Vergangenheit verwendet werden oder die spezielle traditionelle Herstellungsweise eines Produktes herausgestrichen wird.
Erfundene Traditionen
Eine spezielle Form dieses Phänomens stellen die sogenannten „erfundenen Traditionen“ dar. Dieses mittlerweile schon klassische Konzept der beiden Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger [1] zeigt, dass scheinbar in der Vergangenheit fest verankerte Traditionen, oftmals gar nicht so weit zurückreichen, sondern sich erst vor kurzem entwickelt haben. Trotzdem verfügen sie über eine enorme Wirkung. Sie können zum Beispiel kollektive Identitäten erzeugen oder gesellschaftliche Normen und Strukturen stabilisieren. Aber wie kann eine Tradition, die, wie es scheint, über Generationen hinweg weitergegeben und etabliert wurde, „erfunden“ werden? In der Welt der Ernährung gibt es eine Menge an Beispielen für diese Paradoxie. So wurde etwa eine ursprüngliche Form der Pizza von italienischen Einwanderern in die USA exportiert und dort bearbeitet und verändert. Danach gelangte sie in ihrer heutigen Form wieder nach Italien zurück, wo sie zur bekanntesten traditionellen Speise der italienischen Küche avancierte und in der ganzen Welt als solche betrachtet und vermarktet wird.
Herstellung und Bewahrung einer gemeinsamen Identität
Essen kann aber auch zur Etablierung von nationalen Identitäten beitragen. Ein besonders schönes Beispiel dafür stammt von dem Anthropologen Richard Wilk [2]. In seiner Untersuchung zeigt er, wie die Konstruktion der Nation Belize, nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Großbritannien, mit der Wiederentdeckung einer lokalen Küche Hand in Hand ging. Gerade bei MigrantInnen und Vertriebenen kann das kulturspezifische Einkaufen, Zubereiten und Einnehmen von Gerichten Erfahrungen und Emotionen einer Zeit hervorrufen, in denen die Identitäten dieser Menschen noch nicht zerrissen waren und damit ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit schaffen. In diesem Zusammenhang, zeigt eine Studie mit älteren koreanischen Einwanderern, dass diese nach Jahren in der japanischen Emigration das scharfe koreanische Essen nicht mehr richtig verdauen konnten. Dies löste bei ihnen Zweifel an ihrer koreanischen Identität aus und wurde als moralische Verfehlung ihrem Heimatland gegenüber betrachtet.
Wie aus den obigen Ausführungen klar wird, bewegen sich Ernährungsthemen immer zwischen dem Intimen und dem Öffentlichen, dem Individuellen und dem Kollektiven. Das darin liegende Potential, diese Ebenen miteinander zu verbinden, macht es auch für die Zukunft zu einem der spannendsten sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsgebiete.
Referenzen:
[1] Hobsbawm, E. and Ranger, T. (1983). The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University Press.
[2] Wilk, R. (1999). ‘Real Belizian food’: Building local identity in the transnational Caribbean. American Anthropologist, 101(2), 244-255.
Vertiefende Literatur:
Holtzman, Jon D. (2006). Food and Memory. The Annual Review of Anthropology, 35, 361-378.
Sutton, D. (2001). Remembrance of Repasts. An Anthropology of Food and Memory. New York: Berg Publishing.
Hi, das freut uns sehr! Danke.
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