Nahrungstabus – warum wir nicht alles essen, was wir könnten

Bild einer geschmückten Kuh

Bild: Pixabay, CCO

Als Allesfresser befindet sich der Mensch in der Situation, grundsätzlich nahezu alles essen und verdauen zu können. Nichtsdestotrotz gibt es in unterschiedlichen Kulturen oder sozialen Gruppen eine Vielzahl an Nahrungstabus  – darunter versteht man bindende, meist informelle und verinnerlichte Vorschriften, bestimmte Tiere, Pflanzen oder Pilze nicht zu essen. Die bESSERwisser recherchieren wie Nahrungstabus in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Literatur erklärt werden.

Es gibt kein Nahrungstabu, das absolute und universelle Gültigkeit hat. Oftmals sind Nahrungstabus für Außenstehende sogar schwer nachzuvollziehen und zu respektieren. Das deutet darauf hin, dass diese nicht physiologisch verankert, sondern kulturell und sozial erworben und erlernt sind. Nahrungstabus betreffen in erster Linie Fleisch, obwohl auch Pflanzen, wie beispielsweise die Bohne im antiken Griechenland, einem Nahrungstabu unterlag. Besonders strikt erscheinen religiöse Nahrungstabus, wie das Verbot Rinder zu essen und zu schlachten im Hinduismus. Betrachten wir aber die in unseren Breiten tiefgehende Ablehnung, Hunde- und Katzenfleisch zu verzehren, wird klar, dass diese nicht religiös motiviert sein muß.

Doch wie kann man Nahrungstabus erklären? Wie entstehen sie und warum? Ein Blick in die klassischen Theorien zur Erklärung von Nahrungstabus zeigt, dass je nach Theoriengebäude und disziplinärem Background die Erklärungsansätze durchaus variabel sind.

Verweigerung von Nahrung aus praktischen Gründen

Das rationalistische oder kulturmaterialistische Modell [1] geht davon aus, dass Nahrungstabus zuallererst auf materiellen Ursachen beruhen. Dahinter steht die Annahme, dass Individuen/Gesellschaften die (begrenzten) Nahrungsressourcen rational und möglichst effizient nutzen und sich damit optimal an die gegebenen Umweltbedingungen anpassen. Somit weisen jene Nahrungsmittel, die bevorzugt werden, auch eine bessere Kosten-Nutzen Bilanz auf. Das jüdische Schweinefleischtabu beispielsweise wird damit erklärt, dass durch die Entwicklung des Ackerbaus das Schwein zum Nahrungskonkurrenten des Menschen wurde, weil es im Stall gehalten von Getreide ernährt werden muss. Es erzeugt keine Nebenprodukte wie Wolle und kann auch nicht als Arbeitstier eingesetzt werden. Deshalb wurde es aus rationalen und ökonomischen Gründen als zu kostspielig angesehen und im Laufe der Zeit tabuisiert.

Nahrungstabus haben eine Funktion

Rationalistische Ansätze lassen jedoch die Frage offen, warum auch Tiere, die kaum verzehrt wurden, verboten waren. Eine Antwort bietet die funktionalistische oder schichttheoretische Sichtweise [2, 3]. Diese geht davon aus, dass das jeweilige Ernährungsverhalten täglich den Platz des Individuums in der sozialen Ordnung (Gesellschaft) bestätigt. Tabus fungieren hier als Träger von Regeln und Normen, die auch zur Abgrenzung gegenüber „den Anderen“ (Individuen, Gruppen, Gesellschaften etc.) dienen. Somit interessieren sich VertreterInnen dieses Ansatzes nicht unbedingt für das Nahrungstabu als solches und warum gerade ein spezielles Nahrungsmittel tabuisiert wird und nicht ein anderes, sondern vielmehr für dessen Funktion in der gesellschaftlichen Ordnung und Hierarchie. Das Schweinefleischtabu diente demnach der Etablierung einer kollektiven jüdischen Identität und damit der Abgrenzung von anderen Gesellschaften bzw. sozialen/religiösen Gruppen.

Klassifizieren von Nahrung für die soziale Ordnung

Auch strukturalistische Ansätze [4, 5] wollen anhand von Nahrungsmitteltabus die Konstruktionsprinzipien sozialer Ordnungen verstehen. Nahrungstabus stellen für sie ein Mittel dar, eine gedachte Ordnung in der Gesellschaft zu etablieren und zu festigen. Zu diesem Zweck werden Klassifizierungen, wie rein und unrein, gebildet und mit bestimmten Kriterien versehen. Im dritten  Buch Mose ist solch eine Kategorisierung besonders augenscheinlich: Alles, was die Klauen spaltet und wiederkäut unter den Tieren, das sollt ihr essen … Die Kaninchen wiederkäuen wohl, aber sie spalten die Klauen nicht; darum sind sie unrein. Und ein Schwein spaltet wohl die Klauen, aber es wiederkäut nicht; darum soll’s euch unrein sein“ (3. Buch Mose 11). In diesem Fall werden jene Tiere, die nicht zuordenbar sind oder vermischtes darstellen, abgelehnt. Leach (1974) arbeitet mit anderen Klassifizierungen, nämlich fremd und verwandt. In seiner Perspektive werden sowohl Tiere, die zu wild und fremd (Raubtiere), als auch jene, die zu nahe (Schoßtiere) sind, nicht gegessen.

Nahrung als Träger von moralischen Prinzipien

Der kommunikationstheoretische Ansatz [6] sieht Nahrungstabus hauptsächlich als Ausdruck moralischer Normen, deren Kraft stark handlungsmotivierend wirkt. Diese Erklärung zur Handlungsmotivation fehlt beispielsweise in strukturalistischen Ansätzen. Das moralische Bewusstsein einer Gesellschaft zeigt sich in kulturell tief sitzenden und zugleich emotional hoch besetzten Essverboten. Für Eder entstehen Klassifikationen auf der Basis von kollektiven moralischen Vorstellungen. Tiere fungieren hier als Symbole und Stellvertreter, wie ein soziales Zusammenleben aussehen soll. Ein Beispiel dafür ist das moralische Problem des Tötens. Wenn nur pflanzenfressende Tiere wie Wiederkäuer gegessen werden dürfen, wird das Prinzip des Nichttötens zumindest symbolisch gestärkt.

Nahrungstabus sind vielschichtig

Neuere, soziologisch orientierte Richtungen [7] sprechen sich für eine empirische Theorienbildung aus, um dieses Phänomen adäquat untersuchen zu können. In ihrem Verständnis gibt es keine einzig richtige oder falsche Theorie. Antworten müssten sich aus der wissenschaftlichen Untersuchung des jeweiligen Falls ableiten und könnten nicht generalisiert werden: „Es ist höchst unwahrscheinlich, dass so unterschiedlichen Phänomenen wie dem Tötungsverbot von Rindern in Indien, der Ablehnung von Pferdefleisch in Nordeuropa, dem Widerwillen gegen Hunde- und Katzenfleisch in Europa und Nordamerika und dem mosaischen und islamischen Schweinefleischtabu jeweils das gleiche verursachende Prinzip zugrunde  liegt.“ (105)

Es wird davon ausgegangen, dass gewisse ablehnende Praktiken bezüglich der Nahrungsmittelwahl schon vor den Nahrungsvorschriften bestanden. Diese dienten dann oftmals einer nachträglichen verstandesmäßigen Rechtfertigung, die jedoch eine Eigendynamik annehmen kann. Tabus sind also nicht stabil und folgen auch nicht einer Logik. Sie wirken weiter fort, werden funktionalisiert d.h. erfüllen zu einem späteren Zeitpunkt einen anderen, neuen sozialen Zweck. Trotz ihrer Dynamik sind sie, wenn einmal etabliert, hochstabil, weil sie auf einem Gefahrenglauben basieren, der in tief verwurzelten Überzeugungen fußt. Etwaige Übertretungen können dann oft nicht mehr rational eingeschätzt werden, weil sie der Welt des Unbewussten, Religiösen oder Magischen liegen.

Abschließend kann gesagt werden, dass Erklärungsversuche immer mehrdimensional sein müssen, weil Tabus komplex und Motive veränderbar sind.

Referenzen

[1] Harris, M. (1988). Wohlgeschmack und Widerwillen: die Rätsel der Nahrungstabus. Klett-Cotta, Stuttgart.

[2] Pierre Bourdieu, P. (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

[3] Mintz, S. W. (1986). Sweetness and power: The place of sugar in modern history. Penguin, New York.

[4] Douglas, M. P. (1966). Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. Routledge& Kegan Paul, London.

[5] Leach, E. R. (1974). Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

[6] Eder, K. (1988). Die Vergesellschaftung der Natur. Studien zur sozialen Evolution der praktischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

[7] Barlösius, E. (2011). Soziologie des Essens: Eine sozial-und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Beltz Juventa. Weinheim, Basel.

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