Warum wir uns nicht richtig ernähren

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Obwohl wir wissen, wie eine gesunde und ressourcenschonende Ernährung aussehen kann, stellen wir unsere Essgewohnheiten nicht um. Die bESSERwisser haben sich gefragt, wie diese Kluft zwischen Information und Praxis erklärt werden kann.

Ernährung und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt stellen heute große gesellschaftliche Herausforderungen dar. Seit Jahrzehnten sind hier Aufklärungs- und Präventionskampagnen die Mittel erster Wahl. Jedoch müssen sich am Ende des Tages auch die engagiertesten Aufklärer die Frage nach dem Erfolg solcher Maßnahmen stellen. Denn Informationen zur gesunden Ernährung haben oft nur geringe Auswirkungen auf alltägliche Ernährungsgewohnheiten. Warum das so ist, wird in der Literatur unterschiedlich erklärt. Sozialpsychologische Ansätze relativieren die Vorstellung, dass Information zur Verhaltensänderung führt.

Integrieren von Widersprüchen

Laut Leggewie/Welzer [1] stellt das Auseinanderklaffen von Wissen und Verhalten kein Problem, sondern eher den Regelfall dar. Für den Menschen ist es durchaus normal, größte Widersprüche zu integrieren und im Alltag zu leben. Interessant ist hierbei die Frage, warum uns das eigentlich wundert. Hauptverantwortlich dafür ist ein kulturell etabliertes Menschenbild. Dieses basiert darauf, dass Menschen nach Widerspruchsfreiheit streben und deshalb dazu tendieren, möglichst kohärente Gedankengänge, die sich durch einen logisch nachvollziehbaren Zusammenhang auszeichnen, zu bilden. Die soziale Welt erfordert aber, permanent vom eigenen Selbstbild abzuweichen und situationsspezifisch und flexibel zu handeln [2]. Daher liegen Handlungsmotive  vielmehr in der Situation als in der Person.

Menschen handeln also selten nach ihrem „widerspruchsfreien“ Selbstbild. Sie empfinden dabei jedoch Unbehagen [3] und versuchen, dieses durch verschiedene Strategien (Rechtfertigungen, Schuld auf andere schieben, etc.) zu reduzieren. Werte, Normen und Moral liefern dabei lediglich die  Richtschnur für eine passende und legitime Begründung, um Wissen und Handeln wieder in Einklang zu bringen. Damit wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit der eigenen Überzeugung angepasst.

Kultur beeinflusst Essgewohnheiten

Auch kulturelle Effekte kommen hier zum Tragen. So können beispielsweise kulturelle Schamstandards zu „irrationalem“ Verhalten führen (z.B. Anziehen, bevor man bei einem Brand auf die Straße läuft). In Gesellschaften werden alte kulturelle Muster beibehalten und diese trotz besseren „Wissens“ oder sogar offensichtlicher Gefahr nicht an die Gegebenheiten angepasst. So hielten etwa die Wikinger in Grönland trotz Nahrungsmangel an ihrer tradierten Identität fest, keinen Fisch zu essen [4]. Hier war gesellschaftliches Überleben (Selbstbild) gleichwertig mit der biologischen Selbsterhaltung.

Kulturelle Praktiken und Traditionen beeinflussen also ungemein, warum Menschen meistens nicht tun, was sie wissen. Kulturelle Verpflichtungen sind oft gar nicht der Reflexion zugänglich, denn aus der Innenperspektive erscheint manches Verhalten als völlig normal und vernünftig. Dies zeigt sich beispielsweise beim hohen Fleischkonsum in Österreich. Fleisch macht den Hauptbestandteil österreichischer Speisen aus, obwohl wir wissen, dass übermäßiger Fleischkonsum ungesund und ökologisch bedenklich ist.

“Rationale” Entscheidungen durch mehr Information?

Spätestens seit der sozialwissenschaftlichen Kritik am Homo Oeconomicus, dem rationalen und nutzenmaximierenden Menschen, wissen wir: Menschen entziehen sich oft statistisch berechneten Modellen und handeln in den meisten Fällen alles andere als logisch. Nichtsdestotrotz gilt in der „rational choice Theorie“ die Informationsmaximierung als einer der wichtigsten Faktoren, um eine rationale Entscheidung treffen zu können. Denn durch ein mehr an Information würden auch die Wahlalternativen wachsen, und damit könnten leichter „vernünftige Entscheidungen“ getroffen werden. Dass mehr Information Unsicherheiten reduziert, kann nur in den künstlich erzeugten Idealsituationen der klassischen Ökonomie beobachtet werden. In unserer heutigen Informationsgesellschaft ist eher das Gegenteil der Fall. Transportiert durch die Logik der Medien begegnen wir täglich einer Flut an unterschiedlichen und zeitlich begrenzten „wissenschaftlichen Wahrheiten“, was endlose Widersprüche für das Individuum produziert. Dazu gesellen sich ärztliche Ratschläge, Zaubermittelchen und gesellschaftliche Tabulisten. Diese enorme Komplexität erhöht sich noch durch institutionelle, politische und wirtschaftliche Interessen und damit der Frage von Machtbeziehungen. Andere Dynamiken wie das Schlankheitsideal und der Fitnesswahn tun ihr übriges.

Laut Kaufmann [5] entwickeln Menschen im Laufe ihres Lebens unterschiedliche „Ernährungslaufbahnen“, die sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Prozessen und Diskursen speisen. Darunter fallen etwa ein Diktat der Ästhetik, Übergewicht als gesellschaftlich verpöntes Gegenkonzept, die Selbstbeherrschung und Disziplinierung des Selbst und des Körpers, sowie der generelle Übergang von Mangel zu Überfluss in westlichen Gesellschaften. Viele der momentan präsenten Diskurse basieren auf eben dieser falschen Vorstellung eines Individuums, das Lebensentscheidungen rational trifft. Aber menschliche Verhaltensweisen – wie eben auch unsere Essgewohnheiten – lassen sich nicht rein rational begründen. Rationales Handeln ist marginal im Vergleich zum „allgegenwärtigen unterbewussten Gedächtnis, zu den einflussreichen magischen Bildern, dem Spiel der Empfindungen oder der Macht des Umfelds...“ (S. 63)

Lebensverändernde Ereignisse

Wir wissen heute also, dass mehr Information oder Nahrungsvorschriften nicht automatisch zu einer Veränderung der Essgewohnheiten führen. Essen in seiner ganzen gesellschaftlichen Vielfalt zeigt sich relativ resistent gegen Ideen und Erkenntnisse samt ihrer moralischen Bedeutung. Laut Kaufmann bleiben Menschen trotzdem nicht unberührt von Informationskampagnen. Sie entwickeln Schuld- und Schamgefühle: „Diese Vorstellung ist nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern sie entfernt den Esser noch weiter von dem, was bis dahin sein Handeln geregelt hat. Er ist noch mehr den Wallungen unterworfen, die ihn in unkontrollierbare Strudel hinabziehen, bis er sich zu Tode hungert oder überfrisst.“

Bei Krankheit und Betroffenheit werden Vorschriften oder Ratschläge von Ärzten und der engeren Umgebung zwingend und strikt. Aber auch das führt nur selten zu einer tatsächlichen und langfristigen Verhaltensänderung. Für dauerhafte Änderung muss ein altes System von Gewohnheiten zugunsten eines neuen aufgegeben werden. Dies kann etwa durch pedantische Techniken der Alltagsregelung und Selbstkontrolle passieren, aber auch durch sogenannte lebensverändernde Ereignisse (life events), die das Leben der Betroffenen auf den Kopf stellen. Den Normalfall stellen solche Lebensstilveränderungen aber nicht dar.

Fazit

Es ist sicherlich sinnvoll, Menschen über die persönlichen und globalen Auswirkungen bestimmter Ernährungweisen zu informieren. Wichtig ist jedoch, sich von einer Aufklärungskampagne nicht zu viel zu erwarten, denn eine langfristige Verhaltensänderung wird reine Information in den meisten Fällen nicht bewirken. An Strategien und Methoden, die dieser Problematik Rechnung tragen, wird man in Hinblick auf Ressourcenknappheit, Klimawandel und Gesundheitsvorsorge zukünftig verstärkt arbeiten müssen.

Referenzen

[1] Leggewie, C., & Welzer, H. (2009). Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt am Main.

[2] Erving Goffman (1973). Interaktion: Spaß am Spiel – Rollendistanz. Piper&Co Verlag. München.

[3] Bergius, R. (2014). Kognitive Dissonanz. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie, 17. Aufl., S. 839). Verlag Hans Huber. Bern.

[4] Diamond, J. (2004). Collapse: How Societies Choose to Fail or Succeed. Viking Adult. New York.

[5] Kaufmann, J.-C. (2006). Die Nahrungsmittel. Von der Ordnung zur Unordnung. In Kochende Leidenschaft. Soziologie vom Kochen und Essen (pp. 15-72). UVK. Konstanz.

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