Wissen schaffen: Wie Wissenschaft funktioniert

Für wissenschaftliches Arbeiten braucht es ganz unterschiedliche Voraussetzungen, Bild: pixabay, CCO

Wissenschaftliche Erkenntnisse und Aussagen sind längst in unserem Alltag angekommen. Doch wie wissenschaftliches Wissen entsteht und wie in der Wissenschaft gearbeitet wird, ist vielen weniger geläufig. Wir klären die wichtigsten Fragen dazu, wie Wissenschaft funktioniert.

Menschen haben schon immer versucht, die Welt um sie herum zu verstehen. Unsere Vorfahren glaubten oft, dass übernatürliche Kräfte wie Hexen, Dämonen, wütende Götter oder Geister für Krankheiten, schlechtes Wetter oder Hungersnöte verantwortlich waren.

Alltagswissen

Auch heute suchen wir nach wie vor Erklärungen für Ereignisse und Phänomene in der Welt und nutzen dafür häufig unsere persönlichen Beobachtungen und praktischen Erfahrungen. Diese Form des Wissenserwerbs wird Alltags- oder Erfahrungswissen genannt, da es im hohen Maße personengebunden und kontextbezogen ist [1]. Zwei Menschen teilen also nie exakt das gleiche Alltagswissen, auch wenn es große Überschneidungen durch ähnliche Lebensweisen oder die Weitergabe der Erkenntnisse gibt. Gleichzeitig scheint Alltagswissen gerade aufgrund der persönlichen Erfahrungen und deren emotionaler Verarbeitung besonders überzeugend. Das trifft auch dann zu, wenn es darum geht, Fragen nach der Wirksamkeit und Sicherheit eines Impfstoffs zu beantworten oder die langfristigen Veränderungen des globalen Klimas zu ermitteln. Wir nehmen Muster wahr, selbst wenn sie nicht real sind, indem wir unsere Erfahrungen und Beobachtungen sowie Anekdoten von anderen, die auf Vorurteilen, Emotionen, Erwartungen und Wünschen beruhen, verallgemeinern [2].

Wissenschaftliches Wissen

Wissenschaftliches Wissen hebt sich hingegen von der subjektiven Erfahrung und der bloßen Meinung ab. Zum einen hat die Wissenschaft stets den Anspruch, neues Wissen zu generieren, bereits vorhandenes Wissen zu vermehren, zu überprüfen und nötigenfalls zu korrigieren. Für den Prozess, der zu Wissen führt, wird auch häufig der Begriff Erkenntnisgewinn verwendet [3].

Zum anderen ist der Erkenntnisgewinn offen, muss aber in der Wissenschaftsgemeinschaft (Scientific Community) anerkannten und geltenden Regeln folgen. Grundsätzlich gilt, dass wissenschaftliches Wissen durch Experiment bzw. Beobachtung bewiesen oder durch logische Schlüsse fundiert zu sein hat. Außerdem werden Resultate, also Forschungsergebnisse, publiziert, um sie in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Diskussion zu stellen. Wissen ist damit erst wissenschaftlich, wenn es begründet, nachvollziehbar und überprüfbar ist [4].

Was heißt das nun konkret? Begründet meint zunächst, dass eine Aussage nicht beliebig, willkürlich oder rein subjektiv ist, sondern dass ein Nachweis bzw. eine Begründung für die Richtigkeit der Aussage erbracht wird. Nachvollziehbar bedeutet, dass der gesamte Forschungsprozess offengelegt wird. Dabei werden verwendete Quellen, Thesen, angewandte Methoden, Experimente und erhobene Daten so beschrieben, dass auch Unbeteiligte sie verstehen. Überprüfbar meint, dass aufgrund dieser Dokumentation die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen verstanden werden und Mitglieder derselben Wissenschaftsgemeinschaft den beschriebenen Forschungsprozess auch praktisch wiederholen können. Um dieses Kriterien zu erfüllen, müssen Wissenschaftler:innen ihre Arbeiten veröffentlichen, was meist in Form von Artikeln in Fachzeitschriften oder in Büchern (Monographien, Sammelbänden) geschieht.

Wer also eine wissenschaftliche Arbeit liest, kann Folgendes stets erkennen: Auf Grundlage welcher Vorkenntnisse, Daten und Beweise die Forschenden zu ihren Schlussfolgerungen gelangt sind, auf welche Forschungsergebnisse anderer Wissenschaftler:innen sie sich berufen und was ihre neuen Erkenntnisse und Aussagen sind. Dabei wird Erkenntnis häufig gleichbedeutend mit Wissen verwendet, meint aber in einer weiteren Bedeutung auch den Vorgang, der zu Wissen führt [3].

Gütekriterien der Wissenschaft

In diesem Zusammenhang wird in der Wissenschaft von den drei Gütekriterien gesprochen. Diese müssen erfüllt sein, damit eine Aussage überprüft, gegebenenfalls wiederholt und schließlich wissenschaftlich anerkannt wird: Die Objektivität (Unvoreingenommenheit) der bzw. des Forschenden soll sicherstellen, dass auch andere bei gleicher Ausgangslage zu gleichen Forschungsergebnissen kommen. Die Reliabilität (Zuverlässigkeit) bedeutet, dass die ausgewählten Messinstrumente zuverlässig und genau sind. Die Validität (Gültigkeit) gewährleistet, dass das Studiendesign geeignet ist, um die Forschungsfrage zu untersuchen [5].

Ein wissenschaftliches Studiendesign beschreibt den Aufbau und die Planung einer wissenschaftlichen Studie. Es legt fest, wie und unter welchen Bedingungen die Forschung durchgeführt wird, um eine bestimmte Frage zu beantworten oder ein Problem zu untersuchen. Mithilfe des Studiendesigns sollen verlässliche und aussagekräftige Ergebnisse entstehen. Das Studiendesign entscheidet zum Beispiel darüber, wie die Teilnehmer ausgewählt, welche Daten gesammelt und wie diese analysiert werden. Es gibt verschiedene Typen von Studiendesigns, je nach Forschungsfrage und Ziel: (1) Bei experimentellen Designs wird eine bestimmte Bedingung im Studienaufbau gezielt verändert, um ihre Auswirkungen zu messen. Zum Beispiel werden zwei Patient:innengruppen verglichen, von denen die eine Gruppe eine neue Behandlung erhält und die andere nicht. (2) Bei Beobachtungsstudien wird nichts aktiv verändert, sondern bestehende Bedingungen werden beobachtet und analysiert, um Zusammenhänge zu erkennen. (3) Bei Querschnittstudien werden Daten (z.B. von mehreren Personen) vergleichend zu einem Zeitpunkt analysiert, während bei Längsschnittstudien die gleichen Personen über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet, um deren Entwicklungen zu analysieren.

Aristoteles: Begründer der heutigen Wissenschaftsdisziplinen

Es war ein langer Weg, diese Gütekriterien für den Erkenntnisprozess in der Wissenschaft zu definieren. Schon in der griechischen Antike begannen die Gelehrten, die Wissenschaft (scientia) von der Meinung (opinio) und von der Technik/Kunst(fertigkeit) (ars) zu unterschieden [6]. Als einer der Ersten beschäftigte sich Demokrit (460-371 v. Chr.) mit der Atomtheorie und der Induktionslogik. Von Sokrates (469-399 v. Chr.) ist vor allem der Dialog, der von einem Problem zur Lösung führen soll, überliefert. Platon (428-347 v. Chr.) beschäftigte sich mit Philosophie, Metaphysik, Staatstheorie und Ethik sowie mit der Lehre des Pythagoras.

Als Begründer der modernen Wissenschaften gilt jedoch der Universalgelehrte Aristoteles (384-322 v. Chr.). Er fügte die einzelnen Teilbereiche wie die Philosophie, Metaphysik oder Staatstheorie zu einem gesamten Wissenschaftssystem zusammen [7]. Die Einzeldisziplinen ordnen sich in drei große Wissenschaftszweige: Die theoretischen Wissenschaften (Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften), die praktischen Wissenschaften (Ethik, Rhetorik und Politik) und die poetischen (herstellenden) Wissenschaften (Handwerk, Medizin und Dichtung).

 

Universalgelehrte Aristoteles (384-322 v. Chr.), Bild: pixabay, CCO

Diese Zusammenführung der Einzelwissenschaften ermöglichte, dass sich wissenschaftliche Disziplinen ausbildeten. Heute kennen wir die grundsätzliche Unterscheidung in Real- und Formalwissenschaften, die auf Aristoteles zurückgeht. Realwissenschaften erforschen reale, materielle Gegenstände (z.B. Physik, Biologie, Rechtswissenschaften, Soziologie), während Formalwissenschaften abstrakte Strukturen und Beziehungen untersuchen, die unabhängig von der realen Welt existieren (z.B. Mathematik, Linguistik, Logik). Mit der Zeit haben sich die beiden Wissenschaftszweige immer weiter ausdifferenziert. Heute ist beispielsweise in den Realwissenschaften die Unterscheidung in Natur- und Kulturwissenschaften (mit der Ausdifferenzierung in Geistes- und Sozialwissenschaften) weit verbreitet.

Abbildung 1: Einteilung der Wissenschaften, Abbildung nach [8]

Andere Wissenschaftsdisziplin, andere Herausforderung

Die für den Forschungsprozess festgelegten und anerkannten Qualitätskriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität sowie das methodische Vorgehen wie Systematisieren, Reflektieren, Prüfen und schriftliches Aufzeichnen gelten für alle wissenschaftliche Disziplinen. Welche methodisch kontrollierte Überprüfung in der jeweiligen Disziplin akzeptiert ist und wie die Methoden mit dem Anspruch verknüpft sind, zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen, fällt je nach wissenschaftlichem Gebiet wie Mathematik, Naturwissenschaften oder Sozialwissenschaften jedoch unterschiedlich aus [3].

Dabei hat jede Disziplin ihre spezifischen Herausforderungen, wie sie die wissenschaftlichen Gütekriterien umsetzt. So fordert der Anspruch nach Reliabilität beispielsweise die Physik heraus, die in Laborversuchen hohe Messgenauigkeiten von Kleinstpartikeln braucht. Deshalb sind hier die Wahl der Messgeräte und der Versuchsaufbau besondere Herausforderungen. In den Kulturwissenschaften hat dagegen der Anspruch nach Objektivität zu einer intensiven innerwissenschaftlichen Diskussion geführt. Heute ist wissenschaftlicher Konsens, dass Autor:in und Text so eng miteinander verbunden sind, dass die Subjektivität der Autor:innen in der Darstellung nicht überwunden werden kann. Deshalb wird gefordert, dass Autor:innen ihren Schreib- und Erkenntnisprozess reflektieren und diesen im Text sichtbar machen [9]. Sie können beispielsweise ihre eigenen Erfahrungen, Interessen oder persönlichen Bezugspunkte zum Thema darstellen, um zu verdeutlichen, dass sie Beobachtungen nicht neutral wiedergeben, sondern stets interpretieren. Dies wird häufig durch einen weniger distanzierten und formellen Schreibstil unterstützt wie durch die Darstellung in Ich-Perspektive oder durch die Wiedergabe von Gesprächsnotizen und Dialogen. Es muss aber nicht immer persönlich werden: Schon durch die Klarstellung, aus welcher theoretischen Perspektive Kulturwissenschaftler:innen ihre Beobachtungen beschreiben und interpretieren, kann die Reflexion des eigenen Forschungsprozesses transparent machen. 

Allen Disziplinen gemein ist allerdings die Einsicht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und Aussagen nie völlig sicher bzw. irrtumsfrei sein können [10]. Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlichen Arbeitens ist, kritische Fragen zu stellen und davon ausgehend zu neuen begründeten Erkenntnissen zu kommen. Forschende bewegen sich also immer an der Schwelle zwischen bereits erworbenen Wissensbeständen und neuen, noch zu entdeckenden Wissensregionen. Die Fragen, die sie stellen, zielen auf das Neue und Unbekannte. Die Methoden und Erkenntnisse, die sie für die Erforschung nutzen, basieren in der Regel auf den bekannten Wissensbeständen.

Daraus ergeben sich zwei zentrale Konsequenzen: (1) Forschende arbeiten stets kooperativ, d.h. sie beziehen die wissenschaftlichen Erkenntnisse von anderen Forschenden systematisch in ihre Überlegungen ein, um vom Vertrauten auf das Neue zu kommen. (2) Jede Erkenntnis und die davon abgeleitete Aussage ist nur so lange gültig, bis ein neues Forschungsergebnis den bisherigen Wissensbestand in Frage stellt und die Gemeinschaft der jeweiligen disziplinären Wissenschaftler:innen das neue Forschungsergebnis in seiner Gültigkeit anerkennt. Kurzum: Wissenschaftliches Wissen ist immer nur vorläufiges Wissen und alle Wissenschaftler:innen arbeiten daran, das bereits erarbeitete Wissen noch belastbarer zu machen – oder es zu verwerfen und durch neues Wissen zu ersetzen, wenn es nicht mehr überzeugt.

 

ip, 30.10.2024


Quellenangaben

[1] Bardmann, T. (2015). Die Kunst des Unterscheidens. Eine Einführung ins wissenschaftliche Denken und Arbeiten für soziale Berufe. Wiesbaden, Springer VS. https://doi.org/0.1007/978-3-658-08630-5, dort S. 25ff.

[2] Schreier, M., Echterhoff, G., Bauer, J. F., Weydmann, N. & Hussy, W. (2023). Forschungsmethoden in Psychologie und Sozialwissenschaften für Bachelor. Berlin, Springer Nature, 3. überarbeitete und ergänzte Aufl., https://doi.org/10.1007/978-3-662-66673-9, dort S. 12ff.

[3] Gadenne, V. (2005). Was ist wissenschaftliches Wissen? Zum Qualitätsanspruch an Wissenschaft. In: Heid, H., Harteis, C. (hrsg.). Verwertbarkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-07736-7_1 (Zugriff am 22.08.2024)

[4] Thom, M. (1990). Wissen, in: Sandkühler, H. J. (hrsg.). Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, R – Z. Hamburg, Meiner, 903 – 911, dort S. 903

[5] Döring, N. & Bortz, J. (2016). Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften (5. Aufl.). https://doi.org/10.1007/978-3-642-41089-5

[6] Kambartel, F. (1996). Wissenschaft, in: Mittelstraß, J. (hrsg.). Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, Sp – Z. Stuttgart, Metzler, 719 – 721, dort S. 719

[7] Höffe, O. (2014 [1996]). Aristoteles. Beck, München, 4. überarbeitete Auflage

[8] Anzenbacher, A. (2010 [1981]).  Einführung in die Philosophie. Herder, Freiburg, 8. überarbeitete und erweiterte Auflage, dort S. 72

[9] Clifford, J. & Marcus, G. E. (hrsg.) (1986). Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley, University of California Press

[10] Carrier, M. (2021[2008]). Wissenschaftstheorie zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg