Die Annahme, dass alle Zellen einer Person die gleiche Erbinformation beinhalten, zählt heute zum Grundlagenwissen der Biologie und ist weltweit in den Lehrbüchern von SchülerInnen zu finden. Auch die Forschung orientierte sich bisher an diesem „Dogma“, das als solches jedoch nie bewiesen wurde. Abweichungen der DNA in verschiedenen Zellen eines Individuums wurden bis vor kurzem auf Veränderungen der Zellen durch Mutationen - das sind Veränderungen der Erbinformation - zurückgeführt. In aktuellen Studien wurde die Hypothese „Ein Mensch besitzt ein Genom (das ist die gesamte Erbinformation eines Lebewesens)“ auf die Probe gestellt, mit überraschenden Ergebnissen: Die einzelnen Zellen eines Menschen unterschieden sich in ihrem Erbgut.
Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellten die Biologen Wilhelm Roux und August Weismann die These des sogenannten Mosaizismus auf. Damit vertraten sie die Theorie, dass in einem Individuum alle Körperzellen von derselben befruchteten Eizelle abstammen, aber in dessen Körper trotzdem Zellen mit unterschiedlichen Genvariationen vorkommen. Studien, die diese These prüften, konnten ihre Annahmen allerdings nicht unterstützen. Beispiele, in denen Mosaizismen gefunden wurden, ließen hauptsächlich Rückschlüsse auf Erkrankungen zu.
Durch die Verbesserung der Technik der Genomsequenzierung können immer mehr Genome in immer kürzerer Zeit sequenziert werden, und das zu relativ niedrigen Kosten. Dadurch sind mittlerweile auch Forschungsansätze realisierbar, die nicht mehr auf die Untersuchung des Genoms aus einer Zellart einer Person limitiert sind. Heute ist es möglich, mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand gleich mehrere, verschiedenen Körperzellen eines Individuums zu sequenzieren. Der Vergleich innerhalb eines Menschen ist somit möglich.
Bisher wurden aus Kostengründen Genomanalysen meist mit erkrankten – zum Beispiel krebsartigen – Geweben durchgeführt. Abweichungen des Genoms in diesen Zellen wurden oft als Veränderungen durch die Krankheit interpretiert. Mit dem Fortschritt der Technik wurden in den letzten Jahren zahlreiche Studien durchgeführt und veröffentlicht, die Genomvergleiche von Zellen aus unterschiedlichsten Geweben gesunder Individuen als Grundlage hatten. Aus praktischen Gründen wurden bisher für Genomanalysen bei gesunden Menschen hauptsächlich Speichel- oder Blutproben verwendet, mittlerweile gibt es eine wachsende Zahl an Referenzwerten aus anderen Geweben.
Auch das Sequenzieren der DNA aus einzelnen Zellen hat sich mittlerweile zu einer gängigen Methode der Molekularbiologie etabliert und ist Grundlage vieler Forschungsansätze. Die Ergebnisse und Rückschlüsse mehrerer Studien zu diesem Thema waren überraschend: Mosaizismen kommen öfter als bisher angenommen vor, und das auch in gesunden Geweben.
Damit ist mittlerweile klar, dass das Genom eines Menschen nicht stabil ist, sondern sich stetig wandelt. Durch die vielen Zellteilungen, die wir im Laufe unseres Lebens durchmachen, verändert sich die Struktur unserer Erbsubstanz. Das Ergebnis ist kein einheitlicher Bestand von nur einer Erbinformation, sondern vielmehr ein Mosaik aus Zellverbänden mit verschiedenen Genausstattungen.
Die Tatsache, dass die Theorie des einheitlichen Erbguts im Individuum nicht mehr haltbar ist, hat die ForscherInnen Gemeinschaft aufgerüttelt.Viele alte Studien müssen nun in einem anderen Licht betrachtet werden, und für die Planung neuer Experimente gibt es ein Umdenken. Auch zahlreiche wissenschaftlichen Treffen und Diskussionen haben die neuen Erkenntnisse zum Thema. So diskutierten beispielsweise VertreterInnen der ForscherInnen-Elite unter dem Motto "The mobile Genome" – das bewegliche Erbgut“ im Vorjahr in Heidelberg.
Originalpublikationen:
Shendure J. und Akey J. M., The origins, determinants, and consequences of human mutations, Science, 2015 Sep 25, Vol.349, No.6255 (1478-1483), doi: 10.1126/science.aaa9119
Gawad C., Koh W., Quake S.R., Single-cell genome sequencing: current state of the science, Nat Rev Genet, 2016 Jan 25, [Epub ahead of print], doi: 10.1038/nrg.2015.16.
Artikel erstellt am 17.02.2016 von AP